Der Tag näherte sich dem Ende und die zwei Freunde gingen gemeinsam zurück zum Haus der Farvis. Sie sahen sehr gezeichnet von den heutigen Geschehnissen aus: Während dem Jungen das rechte Armstück seiner schlichten, dunkelblauen Robe fehlte und seine Frisur leicht durch den Wind aussah, konnte man Mias Haare mit etwas zwischen nass und mitgenommen beschreiben. Auf ihrem Weg durch die Stadt versuchte sie außerdem, ihre blutbefleckten Hände so gut wie möglich vor den anderen Leuten zu verbergen, indem sie ihre Arme verschränkte und sie dabei in den Ärmeln ihres Kleides versteckte, bis die beiden an einem See (außer Sichtweite der Bewohner) ankamen. Sich die Hände und das Gesicht waschend, schaute das Mädchen auf das Wasser. Sie sah dort zu Vim im Spiegelbild und zu den Lichtkristallen an der Decke. "Hey, Kyrian wollte dich rekrutieren, hat er gesagt. Was denkst du eigentlich?" "... Naja... ich weiß nicht..." Sie standen auf und setzten sich auf eine Bank. "Es dürfte vielleicht ganz abenteuerlich werden... Immerhin kennt er einige interessante Leute..." Er dachte besonders an Evelin und an den Zwischenfall im Gefängnis mit der Dämonin. "Aber... wenn ich..." Dann blickte er zu Mia. "Meinst du...?" Sie zeigte ihm ein Lächeln. Sie genossen die friedliche Ruhe im Park.
Das Mädchen schaute nach oben. "Weißt du, ich will unbedingt mal an die Oberfläche und die Sterne sehen. Und ganz besonders den großen hellen Stern!" Vim lief neben ihr, Hand in Hand. "Mhm." "Bestimmt ist es da wunderschön..." Ihre Gedanken schwebten davon. Sie träumte von einem sonnigen Tag am Strand, vom weiten, blauen Ozean, von Regen, Schnee, von unendlicher Natur. Sie stellte sich vor, wie alle im idyllischen Einklang miteinander leben würden. Wie schön es wäre, frei zu sein... Bald schon standen sie vor dem Gasthaus; es war schon recht spät geworden, weshalb man auch die Lichter angezündet hatte und den Betrieb wieder aufnahm. "Kommst du mit rein für ein Essen?" Er nickte.
Nun befanden sie sich vor dem Haus und nahmen Abschied voneinander, vermutlich sogar für viel länger. "Also dann... auf Wiedersehen..." Mia hielt ihre Hände hinter den Rücken. "Ja... lass' uns wieder etwas unternehmen!", schmunzelte Vim. Sie grinste zurück. "Und wenn du wiederkommst, erzähl' uns von deinen Erlebnissen, ne?" "Mach' ich!" Er winkte ihr zu und überlegte, ob er ihr nicht doch eine Umarmung gab, aber er ließ es dabei bleiben und machte sich auf den Weg nach Hause. Als er nochmal auf den Tag zurückblickte, fiel ihm ein, dass er seine momentane Kleidung nicht benutzen konnte und sich eine neue Robe beschaffen musste - viele hatte er nicht mehr im Schrank stehen, allerdings fehlte ihm auch das Geld dafür. Er seufzte. Ein Versuch konnte ja nicht schaden... und müde war er noch nicht.
Auf dem Billigmarkt für Klamotten angekommen, begegneten ihm verschiedenste Sorten von Altkleidern: hier ein halb zerfetztes, viel zu kleines Hemd, dem die Gebrauchsspuren noch deutlich anzusehen waren (die schwarzen Flecken deuteten auf Kohlebergwerk hin); zwischendurch ein bunter Umhang, der eher einem Flickenteppich glich; dann etwas, was definitiv nicht genießbar aussah und einen herben Geruch hatte; und irgendwo auch ein Schal aus unbekanntem Material, was nicht nur auf den ersten Blick, sonder auch beim Anfassen einen mittelstarken Juckreiz auslöste. So kehrte er nach einer erfolglosen Stunde zurück. Leider waren auch die restlichen, halbwegs normalen Kleidungsstücke eher dazu gedacht, um zu wärmen als um gut auszusehen. Der junge Elf landete schließlich völlig erschöpft im Bett und fiel kurz darauf auch schon in den Schlaf hinein...
"Guten Mooorgeen!" Keine Reaktion, Vims Augen blieben geschlossen. Er tat so, als würde er schlafen. "Na komm', steh' endlich auf...!" Immer noch nichts. Sie sang: "Wenn du nicht aufstehst, verpasst du das Frühstück!", und zog ihm die Decke weg. Er zog die Decke wieder über den Kopf. Sie grummelte ihn an. Dann nahm sie seine Hand... und biss zärtlich hinein. "Uaaah! Au au au!" Als sie wieder losließ, zog er seine Hand unter die Decke und lugte mit seinem Kopf unter ihr hervor, öffnete die Augen und schaute mit seinem miesen Gesicht einem strahlenden Lächeln entgegen. "Naah, ist ja gut..." Vim setzte sich an die Bettkante und kratzte sich am Auge, als er seinen Kopf nach oben richtete und die Halbelfin sah. Einen Augenblick später, überfiel der Junge sie mit einer Kitzelattacke. "Giligiligiligiligili!" "Aaaah hahahaha! Hihihihihi! Hö- hör auf! Hahaha!" Vim stoppte, als eine andere Stimme zwei Türen weiter sprach: "Kinder, Zeit für's Frühstück!" "Jaa, Tantchen!", antwortete das Mädchen, und bevor sie zur Küche losrannte, zeigte sie Vim noch die Zunge. "Bäh!" Er stand auf und wollte ihr hinterherjagen, doch er verfing sich ungeschickterweise mit einem Bein in der Decke und schlitterte auf den Boden.
Er richtete sich auf. Plötzlich war er woanders. Der Junge war nicht mehr im Haus, sondern kniete davor, in Schlafkleidung. Ein eiskaltes Gefühl durchdrang ihn. Irgendetwas zog ihn nach unten, sein Herzschlag wurde immer lauter, er spürte eine Kraft, wie sie an seinem Körper zerrte. Lautes Geschrei, Gekreische, wo sich Gelächter daruntermischte. Sie hatten rote Augen. Die Dunkelheit wurde rot, alles, was er sah, wurde dunkelrot. Er wollte das nicht. Die Luft wurde dünner, jeder zusätzliche Atemzug schnürte ihm seinen Hals enger zu. Sein Kopf dröhnte, sein Augenlicht verschwamm, stechende Schmerzen in Arm und Bein. Vim schrie, aber er hörte sich nicht, er spürte auch nichts, keinen Ton. Nur, dass seine Brust schwerer wurde, sodass er nach vorne umkippte, ohne etwas dagegen tun zu können, sein Körper war erstarrt. Nur seine Augen konnte er bewegen. Er sah die dunklen Gestalten mit den roten Augen. Sie verschlangen mehr und mehr Licht und färbten es rot, dunkelrot, schwarz. Selbst das hellste Licht, das er sehen konnte, das er deutlich spüren konnte - es war so nah dran, dass er es greifen konnte, aber er rührte sich nicht, es war unmöglich -, erlosch. Es wurde totenstill, und Sekunden später verschwanden die Bilder.
Es war morgen. Die Nacht verlief schrecklich, Vim lag noch immer mit dem Gesicht im Bett - aber hellwach - und dachte über diesen Traum nach. Diesen Albtraum. Er fühlte ein Stechen in seiner Brust. Eine halbe Ewigkeit rührte er sich nicht. Doch endlich stand er auf, sprintete ins Bad, zurück zum Schrank, zog sich seine alten Soldatensachen an und stürmte aus dem Haus. Nachdem die Tür verschlossen war, rannte er durch die Stadt. Der Junge wollte nicht länger in der Ecke vergammeln, er wollte jetzt trainieren, stärker werden. Den ganzen Tag lang lief er Runden um die Seen und Häuser von Dulluas, oder verbrachte in leeren Parks Stunden mit Kraft-, Schwert- und Magietraining, dazwischen machte er Pausen und kaufte Lebensmittel für die Farvis' ein, half in der Küche aus oder aß dort bei ihnen. Spätabends kehrte er zurück nach Hause und fiel wie ein Stein ins Bett, um am nächsten Morgen wieder vollkommen fit aus den Federn zu hüpfen. So verliefen die nächsten Tage...
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Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von »K.K.« (5. Februar 2015, 21:15)